wie konntest Du nur
		
Text aus: Jim Willis, "Die leise Stimme der Seele", 
		ISBN 3-905319-33-0, 
		© Copyright 2006 ComArt, Weggis, Schweiz 
		Der Text darf weiterhin von mir verwendet werden. Erlaubnis liegt mir 
		vor! mama-tempo 27.03.2007 
		
		Als ich noch ein Welpe war, unterhielt ich dich mit meinen Possen und 
		brachte dich zum Lachen. Du nanntest mich dein Kind, und trotz einer 
		Anzahl zerkauter Schuhe und so manchem verstümmelten Sofakissen wurde 
		ich dein bester Freund. Immer wenn ich »böse« war, erhobst du deinen 
		Finger und fragtest mich: »Wie konntest du nur?« Aber dann gabst du nach 
		und drehtest mich auf den Rücken, um mir den Bauch zu kraulen.
		
		Mit meiner Stubenreinheit dauerte es ein bisschen länger als erwartet, 
		denn du warst furchtbar beschäftigt; aber zusammen bekamen wir das in 
		den Griff. Ich erinnere mich an jene Nächte, in denen ich mich im Bett 
		an dich kuschelte, du mir Deine Geheimnisse und Träume anvertrautest und 
		ich glaubte, das Leben könnte nicht schöner sein. Gemeinsam machten wir 
		lange Spaziergänge im Park, drehten Runden mit dem Auto und holten uns 
		Eis; ich bekam immer nur die Waffel, denn »Eiskrem ist schlecht für 
		Hunde«, sagtest du. Und ich döste stundenlang in der Sonne, während ich 
		auf deine abendliche Rückkehr wartete.
		Allmählich fingst du an, mehr Zeit mit deiner Arbeit und deiner Karriere 
		zu verbringen – und auch damit, dir einen menschlichen Gefährten zu 
		suchen. Ich wartete geduldig auf dich, tröstete dich über Liebeskummer 
		und Enttäuschungen hinweg, tadelte dich niemals wegen schlechter 
		Entscheidungen und überschlug mich vor Freude, wenn du heimkamst, und 
		auch, als du dich verliebtest. Sie, jetzt deine Frau, ist kein 
		»Hundemensch« – trotzdem hieß ich sie in unserem Heim willkommen, 
		versuchte, ihr meine Zuneigung zu zeigen, und gehorchte ihr. Ich war 
		glücklich, weil du glücklich warst. 
		
		Dann kamen die Menschenbabys, und ich teilte deine Aufregung darüber. 
		Ich war fasziniert von ihrer rosa Haut und ihrem Geruch und wollte sie 
		auch bemuttern. Nur dass du und deine Frau Angst hattet, ich könnte 
		ihnen wehtun. So verbrachte ich die meiste Zeit verbannt in einem 
		anderen Zimmer oder in meiner Hütte. Oh, wie sehr wollte auch ich die 
		Kleinen lieben! Doch ich war ein »Gefangener der Liebe«.
		
		Als sie heranwuchsen, wurde ich ihr Freund. Sie krallten sich in meinem 
		Fell fest, zogen sich auf wackeligen Beinchen daran hoch, pieksten ihre 
		Finger in meine Augen, inspizierten meine Ohren und gaben mir Küsse auf 
		die Nase. Ich liebte alles an ihnen, liebte ihre Berührung, denn deine 
		Berührungen waren selten geworden. Ich hätte die Kinder mit meinem Leben 
		verteidigt, wenn es nötig gewesen wäre.
		
		Ich kroch heimlich in ihre Betten, hörte ihren Sorgen und Träumen zu, 
		und gemeinsam warteten wir auf das Geräusch deines Wagens in der 
		Auffahrt. Es gab einmal eine Zeit, da zogst du auf die Frage, ob du 
		einen Hund hättest, mein Foto aus der Brieftasche und erzähltest 
		Geschichten über mich. In den letzten Jahren hast du nur noch mit »Ja« 
		geantwortet und schnell das Thema gewechselt. Ich hatte mich von »deinem 
		Hund« in »einen Hund« verwandelt, und jede Ausgabe für mich wurde dir 
		zum Dorn im Auge.
		Jetzt hast du neue Berufsaussichten in einer anderen Stadt, und ihr 
		werdet in eine Wohnung ziehen, in der Haustiere nicht gestattet sind. Du 
		hast die richtige Wahl für »deine« Familie getroffen – aber es gab 
		einmal eine Zeit, da war ich deine einzige Familie.
		
		Ich freute mich über die Autofahrt, bis wir am Tierheim ankamen. Es roch 
		nach Hunden und Katzen, nach Angst und Hoffnungslosigkeit. Du fülltest 
		die Formulare aus und sagtest: »Ich weiß, Sie werden ein gutes Zuhause 
		für ihn finden.« Sie zuckten mit den Schultern und warfen dir einen 
		gequälten Blick zu. Sie wissen, was einen Hund oder eine Katze »in 
		mittleren Jahren« erwartet, auch wenn sie einen Stammbaum haben. Du 
		musstest deinem Sohn jeden Finger einzeln vom Halsband lösen, als er 
		schrie: »Nein, Papa! Bitte! Sie dürfen mir meinen Hund nicht wegnehmen!« 
		Und ich machte mir Sorgen um ihn und um die Lektionen, die du ihm gerade 
		beibrachtest – über Freundschaft und Loyalität, über Liebe und 
		Verantwortung, über Respekt vor allem Leben. Zum Abschied hast du mir 
		den Kopf getätschelt, den Blick in meine Augen gemieden und höflich auf 
		das Halsband und die Leine verzichtet. Du hattest einen Termin 
		einzuhalten – und nun habe ich auch einen.
		
		Nachdem du fort warst, sagten die beiden netten Damen, du hättest 
		wahrscheinlich schon seit Monaten von dem bevorstehenden Umzug gewusst 
		und nichts unternommen, um ein gutes Zuhause für mich zu finden. Sie 
		schüttelten den Kopf und dachten bei sich: »Wie konntest du nur?«
		
		Hier im Tierheim kümmern sie sich um uns, so gut es eben geht. Natürlich 
		werden wir gefüttert, aber ich habe meinen Appetit schon vor Tagen 
		verloren. Anfangs rannte ich immer vor ans Gitter, sobald jemand an 
		meinen Käfig kam, in der Hoffnung, das seist du, du habest deine Meinung 
		geändert, all dies sei nur ein schlimmer Traum gewesen … Oder ich 
		hoffte, dass es zumindest jemand wäre, der Interesse an mir hätte und 
		mich retten könnte. Als ich einsah, dass ich nichts zu bieten hatte im 
		Vergleich mit dem vergnügten Um-Aufmerksamkeit-Heischen unbeschwerter 
		Welpen, die völlig ahnungslos waren, was ihr künftiges Schicksal betraf, 
		zog ich mich in eine einsame Ecke zurück und wartete.
		
		Ich hörte ihre Schritte, als sie am Ende des Tages kam, um mich zu 
		holen, und trottete hinter ihr her den Gang entlang zu einem abgelegenen 
		Raum – ein angenehm ruhiger Raum. Sie hob mich auf den Tisch, kraulte 
		meine Ohren und sagte mir, alles sei in Ordnung. Mein Herz pochte vor 
		Aufregung. Was würde jetzt wohl geschehen? Aber da war auch ein Gefühl 
		der Erleichterung. Für den Gefangenen der Liebe war die Zeit abgelaufen. 
		Meiner Natur gemäß war ich aber eher um sie besorgt. Ihre Aufgabe 
		lastete schwer auf ihr – das spürte ich genauso, wie ich jede deiner 
		Stimmungen erfühlt hatte.
		
		Behutsam legte sie den Stauschlauch an meiner Vorderpfote an, während 
		eine Träne über ihre Wange rann. Ich leckte ihre Hand, um sie zu trösten 
		– genauso wie ich dich vor vielen Jahren getröstet hatte. Mit geübtem 
		Griff führte sie die Nadel in meine Vene ein. Ich konnte den Einstich 
		spüren, und eine kühle Flüssigkeit lief durch meinen Körper. Dann wurde 
		ich schläfrig. Ich legte mich hin, blickte in ihre gütigen Augen und 
		flüsterte: »Wie konntest du nur?«
		Vielleicht verstand sie die Hundesprache und sagte deshalb: »Es tut mir 
		ja so leid!« Sie umarmte mich und beeilte sich, mir zu erklären, es sei 
		ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ich bald an einem besseren Ort wäre, 
		wo ich weder ignoriert, noch missbraucht, noch ausgesetzt werden könnte 
		und wo ich auch nicht auf mich allein gestellt sein würde – an einem Ort 
		der Liebe und des Lichts, vollkommen anders als mein irdischer Platz.
		Mit meiner letzten Kraft versuchte ich, ihr mit einem Klopfen meines 
		Schwanzes zu verstehen zu geben, dass mein »Wie konntest du nur?« nicht 
		ihr gegolten hatte. Du, mein geliebtes Herrchen, warst es, an den ich 
		dachte. Ich werde immer an dich denken und auf dich warten.
		Möge dir ein jeder in deinem Leben so viel Loyalität zeigen.
